2008 besuchte Francine Houben, Mastermind des niederländischen Architekturbüros Mecanoo, die englische Stadt Birmingham das erste Mal. In drei Tagen sammelte sie vor Ort erste Eindrücke für ihre Idee zur neuen Library of Birmingham. Die Bibliothek sollte das soziale Herz der Stadt werden und in dieser ethnisch vielfältigen Stadt alle Altersgruppen, Kulturen und Sozialstrukturen zu einander führen.
Die neue Bibliothek von Birmingham ist das Ergebnis eines internationalen Architekturwettbewerbes aus dem das Delfter Architekturbüro Mecanoo als Sieger hervor ging. Birmingham ist nach London die zweitgrößte Stadt des Vereinigten Königreichs und wird von sehr vielen Kulturen und Identitäten geprägt. 50.000 Studenten leben hier, ein Viertel der Bevölkerung von knapp über einer Million Einwohnern ist unter 25 Jahre alt.
Im Gespräch mit dem Bibliotheksdirektor Brian Gambles und seinen Mitarbeitern entwickelt die Architektin ihren Entwurf eines Ortes, der nicht mehr nur eine Domäne des Buches ist, sondern allen Formen des Wissens Platz bietet und sich zusätzlich über die physischen Grenzen des Gebäudes erstreckt. Wie Francine Houben erläutert, ist die Stadt von einer reichen Industriegeschichte mit gotischen Gebäuden aus dem 17. 18. und 19. Jahrhundert geprägt. In vielen klassizistischen und viktorianischen Gebäuden lassen sich beeindruckende Handwerksarbeiten finden. Diese Eindrücke hat die Planerin ablesbar in ihren Entwurf eingearbeitet.
Die Planer von Mecanoo arbeiten nach eigener Aussage wie ein Symphonieorchester zusammen und werden durch ein kompaktes interdisziplinäres Berater-Team unterstützt. In Birmingham verbinden sie das benachbarte Repertory Theatre (REP) mit der Bibliothek und entwerfen einen „People´s Palace“, wie sich Francine Houben ausdrückt, einen Volkspalast. Dieser soll ein „echtes“ öffentliches Gebäude werden, einladend für alle Altersgruppen und Kulturen. Ein Haus, das Passanten in das Innere lockt um sie dort auf Entdeckungsreise gehen zu lassen und das zugleich das gesprochene mit dem geschriebenen Wort vereint.
Die Bibliothek soll ein Maximum an öffentlicher Zugänglichkeit bietet. Das Ergebnis ist eine Gebäudeform mit drei gestapelten Volumina: Die unteren Geschoße verbinden das Gebäude mit dem öffentlichen Platz „Centenary Square“, darauf setzt das Mittelvolumen mit der großen Rotunde und wird von den oberen Etagen mit den Bibliotheksräumen abgeschlossen. Die Staffelung ermöglicht auch eine Abstufung von „Öffentlichkeit“ innerhalb der Gebäudekubatur und schafft, je höher man sich im Gebäude bewegt, zunehmend intimere und ruhigere Plätze sowie Außengärten.
Die Bibliotheksarchive von Birmingham werden bewusst in die oberen Geschosse verschoben um sie zu zeigen und ihren ideellen, kulturellen Wert darzustellen. Die öffentlichen Funktionen sind im Erdgeschoss untergebracht und verteilen dort den Strom von 10.000 Besuchern pro Tag über verschiedene Zwischengeschosse. Letztere sind terrassenförmig angelegt und lassen das weiche, blendfreie Nordlicht tief in den Innenraum.
Der zentrale, in sich verschobene, kreisförmige Kern der Bibliothek versteht sich als Weiterführung einer öffentlichen Straße und führt über das Amphitheater auf dem „Centenary Square“ als Sequenz von differierenden räumlichen Erfahrungen vertikal durch das Gebäude. Die insgesamt fünfgeschossige, große Rotunde verteilt die Besucher in die drei zentralen Bereiche des Hauses: Der öffentlichen Bibliothek, der „Discovery Terrasse“ mit Galerie sowie in die Forschungsbibliothek. Francine Houben versteht dieses kreisförmige Zentrum als ikonischen Raum der sehr vielfältig genutzt werden kann und der den verschiedensten Events Platz bieten soll. Über Aufzüge und Rolltreppen kann der Besucher von hier seine individuelle Entdeckungsreise durch das Gebäude machen. Höhepunkt und Krönung ist der goldene Pavillon auf dem Dach der, den Gral der englischen Literatur versinnbildlichend, den „Shakespeare Memorial Room” beherbergt.
Die Library of Birmingham ist eine Ode an den Kreis als archetypische grafische Grundform, die einzigartig, unendlich und zeitlos ist. Im Innenraum prägt die Rotunde das Gebäude mit seinem runden Grundriss. An der Fassade symbolisieren die filigranen Muster die Geschichte der Stadt als Zentrum der britischen Metallverarbeitung und stehen für die alte Handwerkskunst der Stahlindustrie. Sie erinnern auch an die 200-jährige Tradition der Gold- und Silberschmiede in Birmingham. Laut Francine Houben ist jeder Besucher aufgerufen seine eigene Interpretation des Kreises zu finden. Er kann sie mit den olympischen Ringen vergleichen oder sich an das populäre literarische Märchen des „Herrn der Ringe“ erinnern.
Die sehr einprägsame Fassade ist, so wird sie von Houben definiert, tatsächlich ein Teil der Innenarchitektur. Die Metallkreise generieren je nach Jahreszeit, Tagesverlauf und Lichtintensität vielfältige Schattenspiele und verändern damit kontinuierlich den Innenraum. In vielen Gesprächen entschieden sich die Architekten eine Innenarchitektur zu schaffen, die flexibel und zeitlos ist. Für die Bibliothek wurden natürliche Materialien und Farben gewählt: Naturstein, weiße Keramik auf den Böden, Eiche, Glas und Metall sowie als Farbe das typische „Mecanoo Blau“. Im Repertory Theatre dominieren Sichtbeton und als Farben Rot und Weiß. Innen wie Außen setzen die Architekten auf eine mutige und raffinierte Architektur, die den Geist der alten Industriemetropole Birmingham widerspiegelt.
Autor: Rolf Mauer