Die Bildgewalt verschlägt dem Besucher glatt die Sprache: Hier geht es – auch – ums Essen, keine Frage. Wo sich Ananas und Trauben, Tomaten und Knoblauch unter der Decke wölben, kann das Paradies auf Erden weit nicht sein. Die kürzlich eröffnete Rotterdamer Markthalle zieht Foodies ebenso an wie Kunst- und Architekturinteressierte. Doch der Reihe nach: Im Jahr 2004 gewannen das Architekturbüro MVRDV gemeinsam mit einem Projektentwickler den Wettbewerb für den Bau einer neuen ‚Markthal‘. Der Hauptgrund für die Planung war eine neue EU-Verordnung, die den Verkauf von frischem Fisch und Fleisch im Freien untersagt. Zudem sollte mit dem Neubau mehr Wohnraum geschaffen und das historische Laurensquartier attraktiver gestaltet werden.
Das Gebäude ist für Rotterdam mit seiner Vielfalt an ikonischen Bauten aus der Zeit des Wiederaufbaus und solchen, die in den letzten zwanzig Jahren entstanden sind, als ein städtebauliches Statement zu verstehen, so die Planer von MVRDV. Es ist Teil einer städtischen Initiative, mehr Wohnungen im Stadtzentrum zu bauen und die Lebensqualität im postindustriellen Rotterdam durch eine Anzahl an Großprojekten und unzähligen Bottom-up-Projekten zu steigern. Von einer Bottom-up-Planung spricht man, wenn eine Planung “von unten nach oben” erfolgt, also die einzelnen Details einer Aufgabe bewertet werden, um dann durch Integration und Aufsummierung ein Gesamtergebnis zu erhalten.
Die Markthalle von Rotterdam mit der riesigen Bogenkonstruktion und der daraus resultierenden gigantischen Halle ist ein hybrides Gebäude, bei dem durch die Kombination aus Marktgeschehen und Wohnen eine vollständig neue Gebäudetypologie geschaffen wurde. Zwar findet man Markthallen bevorzugt in der Nähe von Wohngebieten, also in Kundennähe, aber so konsequent wie MVRDV verwob noch niemand diese unterschiedlichen Nutzungen. 126 der insgesamt 228 Wohnungen sind Eigentumswohnungen, inklusive 24 Penthäuser.
Weil eine Markthalle viele Kunden anziehen soll, wurde das Gebäude stirnseitig so offen wie möglich gestaltet. Die beiden Eingangsbögen des 40 m hohen Neubaus verschlossen die Planer mit einer Seilnetzfassade und einer einfachen Verglasung. Die Konstruktion kann man mit der Bespannung eines Tennisschlägers vergleichen, die Seiten bilden einen steifen Rahmen, zwischen dem vorgespannte Stahlseile in einem festen Raster befestigt werden. Starker Wind kann diese Seilnetzfassade, die größte in Europa, bis zu 70 cm verformen.
Kunden, die die 120 Meter lange und 70 Meter breite Halle betreten, werden unweigerlich ihren Kopf in den Nacken legen, um die beeindruckende Deckengrafik zu betrachten. Die Innenseite des Gebäudebogens hat das Künstlerpaar Arno Coenen und Iris Roskam in ein großes Gemälde mit dem Titel “horn of plenty” (Füllhorn) verwandelt, das mit 11 000 Quadratmeter das größte Kunstwerk der Niederlande ist. Das “Füllhorn” zeigt zum einen Bilder von übergroßen Früchten, die auf dem Markt zum Verkauf angeboten werden, und zum anderen auch Blumen und Insekten – ein Bezug auf die verschwenderischen niederländischen Stillleben des 17. Jahrhunderts. Die Künstler zitieren mit ihrem Werk auch den Fassadenschmuck historischer Markthallen, die sich ebenfalls auf die im Inneren angebotenen Waren bezogen. Damit die benötigte Bildschärfe erreicht werden konnte, stellte man die Grafik mit einer speziellen Software her. Um die Hallenakustik zu verbessern und schallharte Wände zu vermeiden, wurde das Bild erst auf perforierte Aluminiumpaneele gedruckt, die dann auf Akustikplatten befestigt wurden. Die Bildauflösung gleicht der eines Hochglanzmagazins, haben uns die Planer erklärt.
Die gestalterische Wucht der Deckenkunst schlägt einen unweigerlich in ihren Bann. Allein ihre schiere Größe und die intensiven Farben lassen den Besucher nicht mehr los. Das Werk ergänzt die olfaktorischen Eindrücke von annähernd 100 Marktständen, die auf verschiedenen Ebenen ihre Ware feilbieten. Im Erdgeschoss und im ersten Obergeschoss befinden sich weitere 20 Läden, acht Restaurants und Cafés. Alle Einkaufsgelegenheiten bieten im engeren Sinne Lebensmittel an, so gibt es etwa ein Weingeschäft und einen Laden für Küchenutensilien. Für alle weiteren Bedürfnisse gibt es im ersten Untergeschoss einen Supermarkt, so dass der gesamte Einkauf unter einem Dach erledigt werden kann.
Entlang den Rolltreppen, die das Erdgeschoss mit der viergeschossigen Tiefgarage verbinden, wird die Geschichte Rotterdams in einer vertikalen Ausstellung gezeigt. Je tiefer man die Rolltreppen hinab fährt, desto tiefer taucht man in die Geschichte der Stadt ein. Im wahren Sinne des Wortes: In den Jahren 2009 und 2010 wurde eine Ausgrabung auf dem Baugrundstück dieser Einkaufskathedrale durchgeführt. Das Grundstück war für die Archäologen interessant, weil genau an dieser Stelle Rotterdam im Jahr 1270 durch den Bau eines Damms an der Rotte gegründet wurde. Erschafft das niederländische Architekturbüro MVRDV nicht immer wieder Gebäude, die die Welt zum Staunen bringen und gestalterische Grenzen überschreiten?